Über Römer 12, 1–8 – Dr. Bernd Krebs

Dr. Bernd Krebs

8. Januar 2023

Dieser Abschnitt aus dem Römerbrief hat Geschichte geschrieben. Das mag uns verwundern, die wir uns schwer tun mit der Sprache, den uns nicht mehr geläufigen Worten. Fremd und sperrig, nur mühsam zugänglich. Und doch: Die Worte des Paulus haben eine Fernwirkung entwickelt wie nur wenige Abschnitte der Bibel, mit nachhaltigen Konsequenzen.

Eine dieser Fernwirkungen haben Sie alle miterlebt. Im Dezember 1989 versammelten sich in der damaligen DDR beinahe flächendeckend Vertreter der Bürgerbewegung, der Kirchen, der Parteien zu den sogenannten „Runden Tischen“ – entsprechend dem wenige Monate vorher in Polen bereits entwickelten Format. Die Initiative dazu ging meistens von Mitgliedern der Ev. Kirche aus; vielerorts wurde diese auch zu den Koordinatoren bzw. Vorsitzenden gewählt. Warum? Weil die Kirche der einzige Raum gewesen war, in dem Menschen sich mit ihren unterschiedlichen Gaben hatten einbringen können, nicht gegängelt vom Staat, und wo sie sich in das hatten einüben können, wovon Paulus spricht: nämlich die unterschiedlichen Fähigkeiten zum Nutzen aller, auf verschiedenen Positionen einzusetzen und in einem vernünftigen Ausgleich eben diese Fähigkeiten für das Gesamte, die Kirche fruchtbar zu machen.

Einsatz für den Nächsten, die Stimme auch in politischen Fragen erheben, sich einmischen, aber dabei nicht Herrschaft auszuüben, sich nicht über den anderen erheben, sondern achtsam und maßvoll miteinander umgeben – das war und ist für Christen nicht eine nachrangige Sache, etwas Nebensächliches, sondern, um mit Paulus zu sprechen: der uns gebotene „vernünftige Gottesdienst“. Soll heißen, damit dienen wir Gott und den Menschen am besten. Also: nicht sich verkriechen hinter den Kirchenmauern und irgendwelche Winkelmessen halten, sondern „raus zu den Menschen“, in „die Welt“.

Und weil eben viele Menschen dies in den Kirchen hatten einüben und praktizieren können, waren die Vertreter der Kirchen damals überall gefragte Leute. Das ist Geschichte – gewiss. Und mancher mag das bedauern, noch heute. Doch die Entwicklung, die mit der Arbeit der „Runden Tische“ begann, bleibt für immer mit dem besonderen Profil evangelischer, protestantischer Weltverantwortung verbunden. Dass dann andere Institutionen, demokratisch legitimierte, die Aufgaben der Runden Tische übernahmen, ja übernehmen mussten, war Teil dieses Prozesse und folgerichtig ...

Worauf es damals ankam, ist aber heute ebenso noch Aufgabe: Dass wir Christen uns an dem Gespräch beteiligen, das immer wieder von neuem geführt werden muss: nämlich über die Frage, was das für unsere Gesellschaft im Großen wie im Kleinen, das „Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“ ist. Hierbei haben Christen immer wieder einen Orientierungspunkt: Gottes Wille, soll heißen zuvorderst seine Gebote, und damit das, was in ihnen über das Zusammenleben gesagt wird ... Wenn wir uns selbst und dann anderen dies immer wieder in Erinnerung rufen, wenn wir durchaus zu manchem „nein“ sagen müssen, also dem Zeitgeist widersprechen, nicht mitlaufen, wo alle mitlaufen.

Und: Wir sind dabei nicht nur aufgefordert, mit Worten, nach außen zu reden, sondern es selbst immer wieder zu leben. Indem unsere Gemeinden die Vielfalt der Begabungen wiederspiegeln, indem nicht einer das Sagen hat, indem man miteinander ringt um den richtigen Weg. Paulus beschreibt mit dem Bild von dem „einen Leib“ ja geradezu die Gleichgestaltigkeit. Nicht ein Oben oder Unten. Schon gar nicht die „Pfarrerfixiert/zentriertheit“, die leider wieder weithin anzutreffen ist. Was gibt es in unseren Gemeinden noch an Schätzen zu heben!

Paulus beschreibt einige der Gaben. 4 Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, 5 so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. 6 Wir haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Hat jemand prophetische Rede, so übe er sie dem Glauben gemäß. 7 Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. 8 Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude.

So könnte wir also jetzt einander befragen: nach den Gaben, die Jeder/Jede in unsere Gemeinde einbringen könnte ….

Hausbesuche – nachbarschaftliche Hilfe – praktische Mitarbeit beim Gestalten der kirchlichen Gebäude – Verantwortung wahrnehmen im Presbyterium – die Stimme erheben, nicht schweigen – Finanziell zur Arbeit der Gemeinde beitragen – den Blick auf die Not Anderer richten ...

Das ist der uns gebotene „vernünftige Gottesdienst“. Und was ist mit der Versammlung, die wir gemeinhin „Gottesdienst“ nennen? Gilt sie gegenüber dem vielfältigen Engagement nichts mehr, oder weniger?

Wenn Paulus hier vom „Opfer“ spricht, das wir mit und durch unser Engagement erbringen sollen, so klingt darin eine massive Kritik am damaligen Tempelgottesdienst mit. Er nahm damit jedoch nur auf, was auch die Propheten wie etwa Amos oder Jeremia schon vor ihm gefordert hatten.

Und was bedeutet diese Kritik für uns? Paulus hat sich ebenso wie wir zusammen mit anderen regelmäßig zum Hören auf die Bibel, zu Auslegung, zu Lobpreis und Dank und zum Gebet versammelt – also Gottesdienst in ähnlicher Weise „gefeiert“ wie wir. Das ist und bleibt die Aufgabe auch heute. Denn wo sollen wir unsere Sinne immer wieder schärfen, uns von Gott befragen lassen und uns gegenseitig prüfen als in eben dieser Versammlung? Und wo werden wir immer wieder daran erinnert, dass alles, was wir sind und haben, allein Geschenk ist, Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes, dass wir Beschenkte sind, wenn nicht hier?

Wenn jedoch unsere Gottesdienste nur noch der Selbstberuhigung dienen, wenn wir in ihnen nur auf uns schauen und darüber Gott und unsere Mitmenschen vergäßen – dann träfe die Kritik des Paulus an einem falschen Gottesdienst auch auf uns zu und wir wären aufgefordert, unsere Gottesdienste zu verändern, ja uns zu verändern und zu erneuern. „Semper reformanda“.

Ich sagte anfangs, dass dieser Abschnitt aus der Bibel Geschichte geschrieben hat. Für Martin Luther und Johannes Calvin wirkte dieses 12. Kapitel des Römerbriefes wie eine Befreiung. Ausgehend von den klaren Worten des Paulus, dass der vernünftige, der wahre Gottesdienst darauf zielt, das wir unserem Nächsten dienen – begannen sie die ganze damalige Frömmigkeit vom Kopf auf die Füße zu stellen. Auf einmal wurde der einzelne Christ und sein Dienst am Nächsten (religiös gesprochen) genauso „heilig“ wie das, was Priester und Mönche taten oder für sich in Anspruch nahmen. Ja, am Ende konnte Luther sogar sagen: Wenn die Magd den Hof fegt, dann ist das Gottesdienst. Denn sie folgt der ihr gegebenen Gabe und Aufgabe und dient damit ihren Nächsten. Die Arbeit, der Einsatz in Beruf und Gesellschaft wurden damit zu Bewährungsfeldern des Glaubens.

Welche befreiende Wirkung das hatte, können wir uns heute in der säkularisierten Gesellschaft gar nicht mehr recht vorstellen. Deshalb sind die Worte des Paulus, so meine ich, für uns heute eher ein Ruf, ja die Aufforderung, uns unserer Berufung und unserer Aufgabe als Gemeinde immer wieder bewusst zu werden. Nämlich mit ihren Versammlungen, mit ihrem „Gottesdienst“ und der Art unser Gemeindeleben zu gestalten – vielfältig, gleichrangig und von vielen getragen – der Gesellschaft um uns herum ein Zeichen zu geben.

Denn es geht ja nicht nur um die Menschen in unserer Gemeinde – sondern im Sinne der Deutung Luthers – um einen Dienst an den Menschen, egal welcher Konfession, Religion oder Weltanschauung sie sind. Dabei sollte gerade von uns als evangelischen Christen immer wieder deutlich gemacht werden: Die Reformation zielte auf die Befreiung der Gewissen von religiös motivierter Machtausübung; damit aber hat sie den Weg gewiesen für die Herausbildung einer Gesellschaft, zu deren grundlegenden Merkmalen die Trennung von Kirche und Staat oder anderes gesagt die Befreiung von der religiösen Bevormundung gehört – egal in wessen Namen.

Wenn Paulus schreibt, dass wir mit unserem Leib, allgemeiner ausgedrückt mit unserer gesamten Existenz Gott dienen sollen, dann heißt das eben nicht, unser Leben als Waffe gegen andere einzusetzen – eines solches „Opfer“ bedarf der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu nicht.

Das „Gute“, „Wohlgefällige“ und „Vollkommene“ , das wir suchen und befördern sollen, ist deshalb – nach jüdisch-christlicher Auffassung – nicht teilbar, als ob es nur den „Gläubigen“ zuzurechnen wäre, den „Ungläubigen“ dagegen alles Böse. Der Auftrag, für das Leben einzutreten, gilt ohne Einschränkung. Religiös motivierter Ausgrenzung, gar Gewaltanwendung werden wir darum entschieden entgegentreten – egal aus welcher Richtung sie kommt.

Was das „Gute“, das „Wohlgefällige“, das „Vollkommene“ ist, das aber müssen wir als Christen – immer von Neuem – durch den Rückbezug auf die 10 Gebote bestimmen, und natürlich mit dem Blick auf die Prinzipien, die in den Menschenrechten/ in den Grundrechten formuliert sind – die Grundlage unserer demokratischen Ordnung. Und wir müssen darüber – wo immer nötig – das Gespräch mit Anderen in unserer Gesellschaft suchen! Nicht zuletzt hier in Neukölln.

Ich wünsche mir, dass sich die Bethlehemsgemeinde auch in Zukunft hier einbringt und die Politikerinnen und Politiker nicht allein lässt.