Über Markus 13,31–37 – Dr. Bernd Krebs

Dr. Bernd Krebs

20. Januar 2008

31 Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. 32 Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. 33 Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. 34 Wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er solle wachen: 35 so wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, 36 damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. 37 Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

„Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit ...“ – so haben wir eben gesungen. Trifft das überhaupt unsere Situation? Liegt die Christenheit, zumal die protestantische hierzulande, im Tiefschlaf vermeintlicher Sicherheit? Betrachtet man die mediale Präsenz des evangelischen Führungspersonals, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Ev. Kirche gerade wieder eine Art „gesellschaftliches Comeback“ erlebt – von den Medien und von der Politik als Gesprächspartner umworben, um Deutung und Einordnung der Zeitläufe gebeten!

Doch die mediale Präsenz einzelner Kirchenrepräsentanten oder (fast könnte man sagen) des Einzigen, der einem auf allen Wellen begegnet, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen: Der deutsche Protestantismus bietet heute eher das Bild einer Gemeinschaft, die sich ihrer „Sache“ gar nicht mehr so sicher ist.
Obwohl den Protestanten aus vielen Richtungen zugerufen wird, dass die „Religion“ wieder zurückkehrt (nach vier Jahrzehnten Selbstsäkularisierung und Profanierung des „Heiligen“), obwohl Schleiermachers Theologie eine Renaissance erlebt und Bonhoeffers Religionskritik längst in ihr Gegenteil verkehrt worden ist, scheinen sich viele Protestanten doch nicht so sicher zu sein:
Ob das, was ihnen als positiver „Trend“ und (bitte!) endlich zu nutzender Anknüpfungspunkt anempfohlen wird, nämlich die Rückkehr der Religion – ob dieses denn tatsächlich dem Zeugnis der Heiligen Schrift entspricht.
Ob hier nicht Gott und die Götter auf dieselbe Stufe gestellt werden und das fromme Selbstbewusstsein und die fromme Selbstbespiegelung des Menschen mit dem WORT verwechselt wird, das sich kein Mensch selbst sagen kann, sondern das uns gesagt wird – weil wir nur so erkennen können, was uns zu unserem Heil dient!

Würde der HERR heute wiederkommen, er fände wohl im deutschen Protestantismus nur wenige vor, die, weil sie sich in falscher Sicherheit wähnen, in den Tiefschlaf verfallen sind. Er fände wohl eher eine Mehrheit vor, die schlaflose Nächte durchlebt, unterbrochen von Albträumen.
Doch was hilft es, denen, die müde in den Tag stolpern, weil ihre Nächte unruhig sind, einfach zuzurufen: „Gebt acht, seid wachsam!“?
Worauf sollen sie „acht geben“ und wem gegenüber sollen sie „wachsam sein“, wenn ihnen die Maßstäbe abhanden gekommen sind, wenn sie den Eindruck haben, dass alles ins Belieben gestellt ist?

In der Mitte dieses Bibelabschnittes steht das Bild von Menschen, denen eine Arbeit übertragen wurde, und zwar nicht irgendwelche Handlangerdienste, sondern eine verantwortliche Tätigkeit. Ihnen ist Vollmacht übertragen, d.h. es  handelt sich (mit heutigen Worten ausgedrückt) um „leitende Angestellte“.
Ein Unternehmen, das nur aus leitenden Angestellten besteht, das gab es zwar damals nicht und das gibt es (bis auf wenige „Start up“-Unternehmen) heute eigentlich auch nicht. Doch Jesus benutzt das Bild ja auch, um die Gemeinde zu beschreiben, die anderen Maßstäben zu folgen hat, wo das „klassische“ Oben und Unten so nicht gilt – wie Jesus in vielen Gleichnissen darzulegen versucht hat –, weil dort die „Ersten“ die “Letzten“ und die „Letzten“ die „Ersten“ sein werden.

Was den „Leitenden Angestellten“ von Jesus aufgetragen ist, ist dies: als Gemeinde ihrem Auftrag zu folgen, bis dass der HERR wiederkommt.
„Gebt acht, seid wachsam“ bedeutet also nicht, die Hände in den Schoß zu legen und in den Himmel zu starren, damit man den Augenblick der Wiederkunft ja nicht verpasst. Sondern die Arbeit zu tun, die der Gemeinde aufgetragen ist –denn alles andere fällt nicht in unsere „Zuständigkeit“, um es mal so auszudrücken.

Schon gar nicht irgendwelche Berechnungen anzustellen und sich in allerlei Spekulationen zu ergehen, wann der HERR wiederkommt. Hier scheint die Gemeinde ja von ihren ersten Tagen an einer Versuchung ausgesetzt gewesen zu sein, in den Himmel zu schauen, statt ihren Aufgaben zu folgen. Das ständige Kreisen um die Frage nach Ort und Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu konnte so in vielen Gemeinschaften (bis heute) zu der eigentlichen Aufgabe werden!
Da stehen dann US-amerikanische Christen auf den Bergen Galiläas und raunen einander zu, dass hier bald die „letzte Schlacht“ stattfinden wird, denn die Bedrängung Israels durch die Palästinenser – das sei das Zeichen für die Wiederkunft des Herrn. Sie kaufen Grundstücke und Häuser und missionieren in Israel und nennen die, die sie „bekehrt“ haben, „messianische Juden“, um so dem Handeln Gottes ein wenig nachzuhelfen – und ohne Belang scheint es für sie zu sein, dass Jesus gesagt hat, nicht einmal der Sohn wisse die Stunde weiß.

Was bedeutet „Gebt acht, seid wachsam“, wenn dies nicht der Aufruf ist, beständig auf der Lauer zu liegen und darüber die Arbeit zu vernachlässigen, ja zu vergessen? In beiden Worten, die hier im gr. Urtext erscheinen, schwingt etwas mit, das wir auch im Deutschen mit weiteren Umschreibungen  ausdrücken müssen. Blepo ebenso wie das später im Text benutzte grägoreo bedeutet im Griechischen nicht nur genau hinschauen, genau hinsehen, sondern im übertragenen Sinne auch „leben“, d.h. „bewusst leben“. Und agrüpneo bedeutet „wachen“ in dem uns auch heute geläufigen Sinne: sich im Wachzustand zu befinden, hellwach zu sein, alle Sinne geschärft zu haben.

Die Aufgabe der Gemeinde insgesamt und die jedes einzelnen Gemeindegliedes besteht also darin, mit scharfem Blick, unter Einsatz aller Sinneskräfte, wozu auch die Verstandeskräfte gehören, ihren Aufgaben zu folgen. Oder anders ausgedrückt: In Vollmacht als Christ zu leben und zu arbeiten, heißt hellwach und mit kritischem Blick die Dinge zu betrachten, zu bewerten und dann die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen für die Arbeit, die uns – dem Einzelnen wie der Gemeinde als Ganze – aufgetragen ist.

Dazu besteht gerade heute aller Anlass. Tönt es doch allzu wohlfeil und selbstgerecht aus den oberen Etagen unserer Kirche, dass die Ev. Kirche die „Kirche der Freiheit“ und die „Kirche der Aufklärung“ sei – wobei letzteres dann oft mit dem Hinweis verbunden wird, dass der Islam diese „Aufklärung“ noch vor sich habe. Das wird wohl so sein. Aber was bewirkt solch triumphalistisches Gerede, außer, dass sich bei den so Angesprochenen wieder das Gefühl einstellt, dass sie von den Christen „belehrt“ werden sollen.

Zumal aus evangelischer Sicht gefragt werden muss, ob bei der selbstgefälligen Rede von der „Kirche der Freiheit“ nicht am Ende Subjekt und Objekt miteinander verwechselt werden. Denn die „Kirche“ ist ja nicht aus sich selbst heraus „Ort der Freiheit“, geschweige denn kann sie die Bedingungen für diese „Freiheit“ erhalten und garantieren.

Die Freiheit, aus der heraus und in der die Kirche lebt, ist eine ihr zugesprochene Freiheit – sie ist die Gabe Gottes, die zunächst und nur dem einzelnen Glaubenden geschenkt wird. Ob sie der Kirche als Institution, zumal der „Körperschaft öffentlichen Rechts“ mit ihren Konsistorien und Landeskirchenämtern, Konferenzen der Kirchenleitungen usw. zugeeignet ist, darüber ließe sich trefflich streiten.

Wenn man überhaupt im Zusammenhang mit der „Kirche“ von „Freiheit“ sprechen will, dann im Sinne der 6.These der Barmer Theologischen  Erklärung, die da lautet:

Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade auszurichten an alles Volk. Und weiter heißt es dann: Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn  in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen“.

Mit anderen Worten gesagt: Die „Freiheit“ der Kirche gründet in ihrem Auftrag, den aber gibt die Kirche sich nicht selbst. Er ist ihr und wird ihr gegeben. Die Kirche (die verfasste Kirche!) ist deshalb auch nicht Inhalt der Verkündigung. Es geht nicht um sie, um ihren Einfluss oder um die öffentliche Wahrnehmung, die ihr und ihrem Führungspersonal zuteil wird. Die Kirche und ihre Vertreter sind auch nicht Gegenstand der Anbetung – hierin unterscheiden wir uns vom Römischen Katholizismus. Die Kirche weist grundsätzlich über sich hinaus.  Auf diese grundlegende Einsicht wollte Dietrich Bonhoeffers hinweisen, als er  schrieb, die Kirche ist nur Kirche, wenn sie „Kirche für andere“ ist – d.h. wenn sie die Botschaft von der freien Gnade an alles Volk ausrichtet.

„Gebt acht, seid wachsam“ – das bedeutet heute, dass die Gemeinden hellwach und kritisch denen auf die Finger schauen müssen, die damit begonnen haben, in einer Art „Staatstreich von oben“, den Protestantismus „leuchtfeuerfähig“ zu machen, d.h. die Mehrheit der Gemeinden zu marginalisieren zugunsten so genannter „Leuchtfeuer“ oder „Leuchttürme“, also der Schwerpunktarbeit in Citykirchen, in Stadtakademien, in Eventgottesdiensten und der Medienpräsenz. Der Bochumer Professor für Systematische Theologie, Prof. G. Thomas hat in seiner Analyse des „Impulspapers“ der EKD darauf hingewiesen, dass die Macher der EKD-Studie sich hierbei an einen Trend anhängen:  

Damit soll ein Trend verstärkt werden, der schon die heutige staatliche Kultur- und Versorgungspolitik und nicht zuletzt viele Wirtschaftsaktivitäten kennzeichnet: Zugunsten von vitalen Zentren wird das Ausbluten der Peripherie geplant und gezielt vorangetrieben. Es dominiert ein Prinzip, das Sozialwissenschaftler‚Matthäusprinzip’ nennen: „Wer hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, dem wird genommen“, d.h. konkret: Wer über einem bestimmten Schwellenwert liegt, der gewinnt, wer darunter liegt, verliert durch dieselbe Entwicklung.
Käme das „Matthäusprinzip“ auf uns Reformierte zur Anwendung – man würde uns ziemlich schnell wegrationalisieren; denn wir liegen „unter dem Schwellenwert“. Was uns noch schützt, ist die Grundordnung unserer Kirche.
In ihr heißt es, dass sich der „besondere Charakter“ unserer Landeskirche in der „Gemeinschaft kirchlichen Lebens“ zeige, in der die Mehrheit der lutherischen Gemeinden mit der Minderheit der reformierten und unierten Gemeinde stünde. Wobei man immer wieder darauf hinweisen muss, dass man in der weltweiten Ökumene eine Gemeinde mit 400 Gemeindegliedern bereits zu den größeren Gemeinden zählt.

Hellwach und kritisch müssen wir heute auch gegenüber dem anderen Schlagwort sein, dass die Ev. Kirche die Kirche sei, die sich am deutlichsten dem Programm der „Aufklärung“ gestellt und dieses in sich integriert habe. Dazu ließe sich viel sagen. Aus Zeitgründen soll hier nur auf zweierlei hingewiesen werden.

In der Zeit der „Aufklärung“ lösten sich die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften endgültig aus der Vormundschaft der Kirchen. Dass dies für die Kirchen, auch für die protestantischen ein schmerzhafter Prozess war, darf nicht klein geredet werden – gerade weil im Zuge dieses Prozesses zugleich auch die Kirchen aus ihrer babylonischen Gefangenschaft befreit wurden.
Vor allem aber muss es uns darum gehen, jenen entgegenzutreten, die „hinter die Aufklärung“ zurück gehen wollen, indem sie z.B. unseren Kindern die Biblische Schöpfungslehre als das Nonplusultra wissenschaftlicher Erkenntnis einreden.

Das ist die eine Gefährdung, die in dem Protestantismus droht, das Abgleiten in den Fundamentalismus. Die andere Gefährdung ist nicht minder problematisch: dass man unter dem Banner der „Aufklärung“ der Beliebigkeit das Wort redet. Oder um es mit dem englischen Wort zu sagen: „Anything goes“.

Mit ihrer Religionskritik hat die „Aufklärung“ uns jedoch – bleibend wie ich meine – vermittelt, dass nicht alles, was der Mensch sich imaginiert oder von dem er sich „ergriffen“ fühlt, dem Wohl des Menschen dient. Diese Einsicht scheint jedoch heute für manche ev. Theologen abgehakt zu sein – Hauptsache, man kriegt ein Stück von der frei vagabundierenden Religiosität zu fassen, um sich daran anhängen zu können. Das ist dann – um es mit einem Vergleich auszudrücken – wie Wellenreiten auf dem Surfbrett. Zunächst stellt sich ein tolles Gefühl ein; doch irgendwann landet man auf dem Strand, sprich auf dem Boden der Tatsachen. Und da zeigt sich dann, dass eben nicht alles, „was mich unbedingt angeht“, mit dem identisch ist, was uns im Wort der Heiligen Schrift entgegentritt und gesagt wird.

„Gebt acht, seid wachsam“, ruft Jesu uns zu. Wären wir dabei allein auf unsere Verstandeskräfte angewiesen, es wäre ein vergebliches Unterfangen. In Vollmacht zu prüfen, abzuwägen und zu entscheiden, das können wir nur, indem wir die Heilige Schrift befragen und uns von ihr herausfordern und befragen lassen. Denn alles vergeht, Himmel und Erde, ja selbst die gegenwärtige Gestalt der Kirche. „Meine Worte aber werden nicht vergehen“ – sagt Jesus. Alles an der Heiligen Schrift zu prüfen – das ist die Aufgabe der ganzen Gemeinde und jedes einzelnen Mitglieds, erst recht der gewählten Vertreter der Gemeinde der Presbyterinnen und der Presbyter. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns die Geistesgegenwart Gottes.

Amen