Über Jesaja 2,1–5 – Dr. Bernd Krebs

Dr. Bernd Krebs

14. August 2011

1 Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: 2 In fernen Tagen wird der Berg des Hauses des HERRN fest gegründet sein, der höchste Gipfel der Berge, und erhoben über die Hügel. Und alle Nationen werden zu ihm strömen, 3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des HERRN, zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns in seinen Wegen unterweise und wir auf seinen Pfaden gehen. Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des HERRN von Jerusalem. 4 Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen. 5 Haus Jakob, kommt und lasst uns gehen im Licht des HERRN!

Welche Fügung, dass die Worte aus Jesaja ausgerechnet am Wochenende des Erinnerns an den Mauerbau zum Predigttext bestimmt sind! 1983 hefteten sich junge Christen in der DDR den Aufnäher, mit dem Wort aus Jesaja 2 auf ihre Jacken. „Schwerter zu Pflugscharen“. Das rief damals die SED auf den Plan. Sie belegte das Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ mit einem Bann – wussten die Genossen doch nur zu gut, dass ein Sozialismus, der nicht mehr auf der Macht der Gewehre gründete, also tatsächlich (und nicht nur in der Propaganda) dem Frieden verpflichtet gewesen wäre, das Ende des realexistierenden Sozialismus bedeutet hätte.

Eben deshalb hatten sie ja 1961 die Mauer durch Berlin und um West-Berlin herum gezogen, damit ihre Herrschaft nicht schon zu diesem Zeitpunkt kollabierte. So ließen sie denn 1983 Tausende von Schülern und Studenten die ganze Strenge der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ spüren. Der Aufnäher mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ musste von den Jacken und Taschen abgemacht werden. Hunderte Schüler und Studenten wurden relegiert. Auch wenn das Symbol, das sie getragen hatten, mit dem Bild jener Skulptur geschmückt war, die einstmals die Sowjetunion der UNO geschenkt hatte und die seitdem vor dem UNO-Gebäude in New York steht.

Die Worte des Propheten hatten 1983 der Hoffnung vieler Menschen Ausdruck verleihen. Sie waren in aller Munde, auch derer, denen ein religiöser Satz nie über die Lippen gekommen wäre. Das zeugt von der überschüssigen Kraft der biblischen Botschaft. davon Worte, die von Generationen überlesen, überblättert, nicht wahrgenommen wurden, hatten sich quasi zurückmelden.

Denn es sind nicht einfach Worte, wie sie tagtäglich erklingen und wieder verschwinden. Es sind Konkretionen des Wortes, Konkretionen der Weisungen des HERRN, in der zweifachen Gestalt als Evangelium und Gesetz. Es sind Worte, die ihre richtungsweisende Kraft im Hier und Jetzt zu entfalten vermögen – und nicht erst „zur letzten Zeit“, wie Luther hier übersetzte, misstrauisch gegenüber allen „schwärmerischen“, gar politischen Auslegungen der Heiligen Schrift, zumal der Propheten. Damit aber nahm Luther der Verheißung des Jesaja die Spitze.

„Es wird geschehen in der Folge der Tage“ – so heißt es hier eigentlich im hebräischen Text. Es wird geschehen, nicht erst irgendwann – sondern „es wird“! Weil der, der hier spricht, der ist, der war, ist und sein wird. Gott lässt sich nicht einbinden, nicht einplanen, nicht verrechnen. Sein Wort ist auf dem Plan ist und wird immer wieder auf den Plan treten, überraschend und unerwartet, wie 1983.

Doch die Weisheit der Realisten spricht: „Die Welt ist doch alles andere als friedlicher geworden, nach dem Ende des ‚realexistierenden Sozialismus‘ und der Ost-West-Konfrontation!“ Ja, wie viele Völker haben nach 1990 eben genau das Gegenteil von dem getan, was hier verheißen wird. Sie haben das Schwert gegeneinander erhoben, um sich „ihr Recht“ zu verschaffen, in Jugoslawien, im Kaukasus! Und ist nicht der Berg, auf dem einmal das Haus des HERRN stand, Jerusalem, al-Quds, der Ort, von dem gerade nicht Weisung ergeht und Frieden geschaffen wird, sondern Menschen gegeneinander aufgestachelt werden?

Die Mehrheit der Ausleger sieht in dem Abschnitt ein Trostwort, eine ermutigende, aufrichtende Vorausschau, mit welcher der Prophet den Menschen damals am Anfang seines Buches sagt: was auch immer kommen wird, das Gericht über Jerusalem und seine Oberschicht, die Wegführung, das Exil – das alles bleibt doch eingefasst von Gottes Heilsangebot an sein Volk. Deshalb ergeht am Ende die Aufforderung: „Haus Jakob, kommt und lasst uns gehen, lasst uns wandeln im Licht des HERRN“ – soll heißen: lasst uns an SEINEM Wort, seiner Weisung, festhalten, in allem und trotz allem.

Freilich: Es bleibt Gottes Entscheidung, wann und unter welchen Bedingungen ER jenen Prozess des Aufeinanderzugehens und Hörens, des Dialogs und der Erneuerung in Gang setzen wird, den Jesaja hier beschreibt. Wir bräuchten ihn so dringend!

Wer genau hinhört und die Wort noch einmal nachliest, wird erkennen: hier wird nicht das Ende aller Konflikte verheißen, sondern die Möglichkeit eröffnet, Konflikte ohne Gewalt zu lösen, indem Recht geschaffen wird.

Die Völker werden ihre Konflikte – so deute ich diese Verse – auf der Grundlage des Völkerrechts und seiner Prinzipien lösen. Sie werden sich also an übergeordneten Grundsätzen orientieren. Dadurch erst wird ein gerechter Ausgleich der Interessen möglich. Wir alle wissen: solche Instrumente des Ausgleichs gibt es. Sie finden Anwendung und haben dazu beigetragen, dass die Konflikte auf dem Balkan befriedet und Wege zu einem Ausgleich der Interessen möglich wurden.

Gewiss, bisweilen ist das internationale Recht noch schwach. Es muss gestärkt und ausgebaut werden, nicht nur im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch im Bereich der Wirtschaft und Finanzen und im Dialog der Religionen. Zumal angesichts der Globalisierung und der mit dieser einhergehenden Verunsicherung die Versuchung wächst, sich wieder auf angeblich feste Bastionen wie Nation, Ethnie, Religion usw. zurückzuziehen. Das nährt neue Konflikte.

Vor allem im Dialog mit dem Islam und den muslimisch geprägten Staaten ist es dringend notwendig, nach Möglichkeiten der Verständigung und der friedlichen Konfliktlösung zu suchen. Die Fokussierung auf den islamistischen Terror verstellt auf beiden Seiten leider oft den Blick und behindert, ja blockiert den Dialog.

Bei uns wird dadurch ein Bild von „dem“ Islam gezeichnet, das leider zu einer self-fulfilling prophecy geworden ist. Das ist verheerend, denn darüber werden Zugänge für Gespräche verschüttet oder abgebrochen, etwa im Gespräch mit dem schiitischen Islam, die es längst gibt. Im schiitischen Islam existiert seit dem Frühmittelalter die Lehre, dass es ein rational einsehbares Gutes gibt, an das sich auch Gott bindet. Recht kann also gesetzt werden, weil es sich aus der Vernunft ergibt. Und weil es vernünftig, kann es für alle Menschen gelten, jenseits ihrer jeweiligen Religion bzw. religiösen Bindung. Diese Deutung im schiitischen Islam ist vergleichbar mit dem, was wir in unserer abendländischen Tradition u.a. im Begriff des Naturrechts beschreiben.

Das hebt die religiöse Dimension des Rechts für uns, die wir Christen sind, nicht auf oder anders gesagt: weil wir glauben, dass Gott immer zu uns in der zweifachen Weise spricht, in der Weise des Zuspruchs und des Anspruchs, als Evangelium und Gesetz, folgt aus dieser besonderen Beziehung im Blick auf die Worte des Jesaja: Wir sollen für eine Entfeindung in den Beziehungen zwischen den Völkern und den Religionen werben und eintreten. Das beginnt damit, dass wir uns in die Position und in die Lebensweise der Anderen, auch unserer Feinde einfühlen und Vertrauen wagen. Nur mit Einfühlung ist es möglich, Furcht und Abgrenzung zu überwinden.

„Den Geist und die Logik der Abgrenzung überwinden“ war 1983 die zentrale Forderung der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR. Für die SED war das eine Provokation, denn „Geist und Logik der Abgrenzung“ überwinden, hätte bedeutet, sich vom marxistisch-leninistischen Weltbild verabschieden zu müssen. Das aber wäre das Ende der Partei und ihrer Herrschaft gewesen. Zur kirchenpolitischen Strategie der SED gehörte es deshalb stets, die Aktivitäten der Gemeinden auf Bibelauslegung, Gebete und den Kult einzugrenzen, um so die Kirchen in ihrer politisch-sozialen-gesellschaftlichen Wirkung zu neutralisieren.

Damit rückte die Partei – ungewollt – die Bibel in das Zentrum der kirchlichen Arbeit. Die Menschen aber fanden in den uralten Texten nicht nur Trost, sondern auch Ermutigung und Orientierung. Die biblischen Texte schenkten ihnen in der tristen realsozialistischen Gegenwart Kraft, sie stärkten und ermutigten zum Widerstand.

Eine solche Dynamik der Bibel hatten die Genossen nicht auf ihrer Rechnung. Desto heftiger reagierten sie, wenn biblische Bilder über die Kirchenmauern hinweg eine unerwartete Kraft zu entfalten vermochten – wie das biblische Motto „Schwerter zu Pflugscharen“.

Der Leipziger Theologe Jürgen Ziemer hat Anfang der 90er Jahre untersucht, wie die Bibel in der DDR zu einer wichtigen Sprach- und Verstehenshilfe wurde. Biblische Texte halfen dabei, existentielle oder gesellschaftliche Gegebenheiten, über die öffentlich zu sprechen unerwünscht war, zu benennen. Von besonderer Bedeutung waren hier die Friedensgebete, im Herbst/Winter 1989/90. „Die biblischen Texte halfen, den eigenen begrenzten Sprachhorizont zu erweitern und … wenigstens für einen Augenblick auch den Welthorizont.“ Die biblischen Texte wiesen auf etwas Überschüssiges, auf „ein Mehr gegenüber der … erlebten Wirklichkeit, auch wenn dieses Mehr für die meisten … nur eine Ahnung oder eine Empfindung geblieben sein mag.“

Biblische Texte vermögen Menschen zu beleben und die versteinerte Verhältnisse in Bewegung zu versetzen, denn sie legen Zeugnis von dem ab, der uns auf den Weg der Nachfolge ruft, der in Zuspruch und Anspruch unser Tröster, unser Heiland und unser Richter ist.

Entfeindung – so sagte ich – beginnt mit Einfühlung. Paulus fragt im Römerbrief: „Er, der seinen eigenen Sohn nicht verschonte, sondern für uns alle hingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“. Gott hat die Gegnerschaft aufgehoben, indem ER sich in seinem Sohn auf unsere Seite gestellt hat. ER selbst hat damit die Grundlage geschaffen für die Entfeindung, der wir bedürfen. Gott schenkt uns die Fähigkeit, bei den Anderen, auch bei den Gegnern, Friedenssehnsucht und Friedensfähigkeit nicht nur zu suchen, sondern für möglich zu halten. Wir können ihnen die Hand zustrecken, damit keine Nation gegen eine andere das Schwert erheben und keiner mehr das Kriegshandwerk lernen muss.

Ja, ich weiß, wir leben in der noch nicht erlösten Welt, in der – wie es in der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 heißt – der Staat die Aufgabe hat, „unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“.

Aber solches wird – in einem demokratischen Rechtsstaat – immer von den grundlegenden Prinzipien des Rechts geleitet sein, dessen Grundlage und Ausgangspunkt für uns Christen in den Zehn Geboten, in der Tora, der Weisung zum Leben, liegt. Deshalb gilt für uns – wie dem Haus Jakob – die Einladung: „Kommt und lasst uns im Licht des Herrn, unter seinem Wort wandeln“, auf dass es unseres Fußes Leuchte sei und ein Licht auf allen unseren Wegen.

Amen