Die andere Seite Gottes? – Dr. Bernd Krebs

Dr. Bernd Krebs

20. Januar 2005

Zum Jahreswechsel haben wir gesungen:

Nun laßt uns gehn und treten
mit Singen und mit Beten
zum Herrn, der unserm Leben
bis hierher Kraft gegeben.
Wir gehn dahin und wandern
von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen
vom alten bis zum neuen
durch so viel Angst und Plagen,
durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken,
die alle Welt bedecken.

Dass Paul Gerhards Worte heute in so bedrängender Unmittelbarkeit zu uns sprechen, dass sie unserem Entsetzen angesichts der schrecklichen Bilder aus Asien Ausdruck verleihen können – welche Übereinstimmung mit den Erfahrungen früherer Generationen tut sich da auf! Nicht nur mit den Menschen zur Zeit des 30jährigen Krieges! Auf einmal erleben auch wir, die Nachgeborenen – so hat dieser Tage ein Kommentator geschrieben – was in den Nachkriegsjahren in der Mitte des 20. Jahrhunderts Erfahrung unzähliger Familien war: „Vermisst“ – Ungewissheit über das Schicksal Angehöriger, Freunde. Ein Leben zwischen Hoffen und Bangen, je länger, desto stärker die Ahnung: „Sie wird nicht mehr wieder kommen …“ Und was hier, in der Mitte Europas, für Tausende Familien, für Freundeskreise, Arbeitskollegen zu einer schrecklichen, die Existenz bis in die Grundfesten erschütternden Erfahrung geworden ist, trägt dort in Asien das Gesicht Hunderttausender. Daran zu erinnern, war einer der ersten Sätze des Bundeskanzlers. Wir leben in einer Welt. Das Leid ist unteilbar. Und zugleich wissen wir, dass unsere „eine Welt“ eben doch noch längst nicht „eine Welt“ ist. Ja, menschliche Not ist nicht verrechenbar, aber sie zu überwinden und, so weit möglich, zum „normalen“ Leben zurück zu kehren, ist in Aceh auf Sumatra eben doch noch eine sehr andere Herausforderung, um es milde auszudrücken, als bei uns. Was uns in Phuket und Kao Lak als Paradies erscheint, um Entspannung und ungestörte Stunden zu erleben, ist bloße Kulisse und alles andere als ein Paradies … nicht erst nach der Katastrophe vom 2. Weihnachtstag, sondern längst davor. Armut und Kinderprostitution bestimmen den Alltag, auch dort.
Die „Hölle“ hat viele Gesichter.

Es fällt mir daher schwer, mich den weiteren Strophen Paul Gerhardts in der selben Intensität hinzugeben, wie den ersten Strophen:

Denn wie von treuen Müttern
in schweren Ungewittern
die Kindlein hier auf Erden
mit Fleiß bewahret werden,
also auch und nicht minder
läßt Gott uns, seine Kinder,
wenn Not und Trübsal blitzen,
in seinem Schoße sitzen.

Denn da ist etwas mit dem 26. Dez. 2004 auch in  mir zerbrochen – das ich nicht einfach übersehen, gar übergehen kann.
Dass  Paul Gerhard nach den Schrecknissen des 30jährigen Krieges zu solchen, fast möchte ich sagen, naiv-kindlichen Worten finden konnte, bewundere ich – aber ich kann ihm darin nur schwerlich folgen. Schon näher, bedrängend nahe erscheinen mir dagegen die Worte aus dem Psalm 42:

Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht,
weil man täglich zu mir sagt:
Wo ist nun dein Gott?
Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst:
wie ich einher zog in großer Schar, mit ihnen zu wallen
zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken in der Schar derer, die da feiern.
….
Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich …
Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere; alle
deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich. …
Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen?
Warum muß ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget?
Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde
schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?

Denn die bittere Frage „Warum konnte Gott das zulassen“,  ist auch meine Frage. Sie spricht mich an aus den Gesichtern der Umherirrenden, die verzweifelt nach den Ihren suchen, sie kehrt wieder mit jedem Bild von den aufgereihten Toten und dem unvorstellbaren Ausmaß der Zerstörung … Ich kann diese Frage nicht einfach wegschieben. Denn sie ist und bleibt eine der bedrängenden Fragen des Glaubens – bis wir am Ende den erkennen werden, dessen Anblick hier auf Erden niemand ertragen kann: der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu – dessen abgewandete, unergründliche, unfassbare Seite wir in diesen Tagen  „zu Gesicht bekommen“ haben (welch Widerspruch in sich!) und erneut werden aushalten lernen und ertragen müssen. Der Deus absconditus. Die andere Seite Gottes, die unfassbare, unerforschliche Seite des „Allmächtigen“.

Ich empfinde es daher als intellektuell wie seelsorgerlich fragwürdig, wenn die Frage nach der Allmacht Gottes mit dem polemischen Hinweis auf menschliche Allmachtsvorstellungen vom Tisch gewischt wird. Als habe diese Frage nicht Luther, Calvin, Bonhoeffer ebenso umgetrieben und bis ins Tiefste erschüttert – als sei sie „nur“ eine Frage von Atheisten, Spöttern und Boulevard-Journalisten, die ihre Titel mit der Frage „Wie konnte Gott das zulassen“ aufmachen.
In unser allzu oft säuselndes, liebreizendes Predigen hinein, das so gern vom „lieben Gott“ kündet, hat sich der Andere, der ganz Andere zurückmeldet …

Dem Erschrecken und Erschaudern darüber Ausdruck zu geben und mit und an der Seite der Opfer auszuhalten, ist genauso „not-wendend“ wie den Betroffen durch Spenden zu helfen, damit die Not gelindert und die  Grundlagen für einen Wiederaufbau geschaffen werden können.

Gewiss gilt auch: wäre da allein die dunkle, die abgewandte Seite Gottes, die Kehle  würde uns vertrocknen und unsere Klage ungehört verstummen. Unser Klagen ist Ausdruck unserer Hoffnung, dass Gott sich nicht auf ewig verhüllt, sondern sich uns in Jesu, dem Christus zugewandt hat – Mensch wie wir, angefochten, bedrängt und doch nicht der Bedrängnis preisgegeben. Wie das zusammenkommt in dem je eigenen Leben, die Klage und das Hoffen – das wird ER uns neu aufschließen. Zu seiner Zeit. Darauf hoffe ich. Deshalb will ich es wagen, die anderen Worte des 42.Psalm ebenso mitzusprechen:

Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?

Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,
daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Dass da in diesen Tagen etwas geschehen ist, was tief in unser Leben eingreift, ahnt ein jeder von uns. Vielleicht wird  das Seebeben vom 26.Dezember 2004 einmal für das Bewusstsein unserer Zivilisation einen solchen Wendepunkt markieren, wie der Untergang der Titanic, der vor 100 Jahren die Fortschritts- und Machbarkeitsgläubigkeit des Alten und Neuen Kontinents in seinen Grundfesten erschütterte.

Darin könnte die Katastrophe  von Asien tatsächlich eine - in ihren Ausmassen noch schrecklichere - Anfrage an die menschlichen Allmachtsphantasien sein – an das „immer höher“, „immer weiter“, an das Ausweiten menschlicher Herrschaft und die für machbar erklärte „Unterwerfung der Natur“. Menschliches Leben bleibt gefährdetes Leben.

Was das bedeutet, neu zu erfassen und die rechten Schlussfolgerungen zu ziehen für das je eigene Leben und das Zusammenleben in der „Einen Welt“, ist die uns gestellte Aufgabe. Allen. Hier wie in Asien und nicht weniger in Amerika. Dass sich dabei die Gottesfrage für viele Menschen auf verstörende Weise neu gestellt hat, ist die andere, wie ich meine, die zweite Lektion des 26. Dez. 2004.

Hoffentlich nehmen wir Christen dieses aufgebrochene Fragen nicht nur zur Kenntnis, sondern in Achtsamkeit und in Solidarität auch an. Denn die Gottes-Frage ist nicht nur die Frage der „Anderen“. Sie ist auch unsere Frage. Sie ist die Frage nach Leben und Tod und danach, wer uns, in beidem, Halt und Trost zu geben vermag.