Über II. Korinther 6,1–10 – Dr. Bernd Krebs
Dr. Bernd Krebs
19. August 2012
1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, daß ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. 2 Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; 4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.
Wer so redet, wie der Apostel Paulus, ist tief getroffen; hier fühlt sich einer nicht nur missverstanden, sondern ungerecht bewertet, in seinem Reden, in seinem Handeln, in seiner ganzen Persönlichkeit. „Wisst Ihr Korinther überhaupt, was ich täglich auf mich nehme, um Euch und anderen das Evangelium zu verkünden ... Habt Ihr wirklich eine Ahnung von dem, was ich durchmache, an Ängsten, an Anfeindungen ...? Was redet Ihr da über mich ...?“
Jeder von uns weiß: wenn ich mich falsch bewertet fühle, wenn ich spüre, dass meine Rede nicht mehr ernst genommen wird, dass ich mit meinen Worten nicht mehr gehört werde – dann lässt jedes Wort den Schmerz darüber noch heftiger werden.
Und je mehr Worte Paulus der schon viel zu langen Aufzählung hinzufügt, um so stärker mag in ihm das Gefühl geworden sein, doch nichts ausrichten zu können. Denn: „Wer sich verteidigt, klagt sich an“ sagt der Volksmund – nicht erst heute, auch damals. Die, die in der Gemeinde in Korinth Paulus schon immer für einen schwachen Apostel, einen mittelmäßigen Prediger und einen mäßigen Organisator hielten, werden über die nicht enden wollende Auflistung der „Verdienste“ ihres Apostels den Kopf geschüttelt oder spöttisch die Luft eingezogen haben.
Manchmal hat Paulus seine Gemeinden mehr aufgebürdet, als sie zu tragen in der Lage waren; er hat sie „überfordert“ wie er sich selbst wohl oft genauso überfordert hat - dieser rastlose, gesundheitlich gefährdete Mensch, der am liebsten das ganze Römische Reich für seinen HERRN durchwandert hätte! Und der doch kein Mann der Tat war, eher ein Zauderer, ein Suchender. Einer, der zeitlebens eine Antwort suchte, wie denn die Einsichten, die ihm nach der Begegnung mit dem Auferstandenen geschenkt worden waren, mit dem zusammenpassten, was er einmal als frommer Jude gelernt und ein halbes Leben lang öffentlich vertreten hatte.
Und dann musste er sich in Korinth einer tief zerstrittenen Gemeinde stellen, die – wenn Paulus weiter gezogen war - allen möglichen Predigern und selbsternannten Evangelisten das Ohr lieh und dann Paulus mit diesen verglich – wobei er in der Bewertung oft sehr schlecht weg kam; und die - statt das für sich zu behalten - dafür sorgte, dass Paulus davon erfuhr. Deshalb zählt Paulus in seiner Selbstverteidigung auf, was er als Apostel alles hat durchstehen müssen um des Zeugnisses für Christus willen.
Doch wenn man so viele Worte aufwenden muss, um überhaupt noch Gehör zu finden, ist der Gesprächsfaden längst gerissen! Ob ihn wenigstens einige in Korinth verstanden und Paulus beim nächsten Besuch beiseite genommen und getröstet haben? „Paulus, warum musstest Du das alles aufzählen? Hast Du nicht gespürt, dass wir Dich und Deine Verdienste gar nicht klein reden wollten, dass Du uns lieb bist und wir Dich hier bei uns immer wieder gern begrüßen ?“
Ja – so redet man dann! Jeder von uns weiß, wie wenig man mit solchen Beteuerungen ausrichtet, wenn die Lage verfahren ist. Dann kann man die Skepsis dem anderen geradezu von der Nasenspitze ablesen. Und wenn er oder sie es nicht laut sagt, so wird sie es doch für sich denken: „Das hilft mir überhaupt nicht ... Du nimmst mich nicht ernst ... Ich bin am Ende, habe keine Kraft mehr und Du redest dann noch alle diese Sachen über mich, dass es die anderen hören und ich sie feixen höre ...“
Was in einer verfahrenen Situation wie dieser allein noch hilft, ist, stehen zu lassen, was der andere gesagt hat und nicht daran herumdeuten oder es interpretieren zu wollen. Man muss es stehen lassen und aushalten. Denn das ist es ja, was den anderen umtreibt und schmerzt. Das weg reden, schön reden oder abmildern zu wollen, wird nichts ausrichten. Dann aber sollte man sich selbst prüfen und sich die Frage zu stellen: Was ist schief gelaufen zwischen uns, dass der andere sich so bedrängt sieht und meint, sich rechtfertigen zu müssen? Ohne solche Selbstprüfung, und zwar allein für mich, wird sich kein Weg öffnen, auf dem wir wieder zueinander finden.
Wie es dann weitergeht? Ich habe kein Rezept, keinen Verhaltenstipp. Ich glaube aber, wenn der andere/die andere spürt, dass sein/ihr Schmerz zu mir durchgedrungen ist, ungefiltert, kann daraus ein neues Hören entstehen.„Jetzt ist es raus ... Komm lass uns sprechen, wie es weiter gehen soll ...“
Ob die Briefzeilen des Paulus eine solche reinigende Wirkung gehabt haben, zwischen Paulus und den Korinthern? Im V. 11 schreibt Paulus: „O ihr Korinther, wir haben frei und offen zu euch geredet, das Herz ist uns weit geworden ...“ Das lässt vermuten, dass sie wieder zueinander gefunden haben. Zwei Kapitel weiter „erleben“ wir Paulus schon wieder voll in seinem Element: wie er die Korinther für die Kollekte zugunsten der verarmten Gemeinde in Jerusalem zu gewinnen versteht. Das ist Paulus, so wie er wohl am liebsten immer gewesen wäre, in der Selbstwahrnehmung und im Urteil der anderen.
Manchmal ist ein Zusammenprall wohl notwendig.
Vielleicht ist Paulus schon bei der Aufzählung das Herz wieder aufgegangen und das Gefühl der Frustation mag allmählich gewichen sein. Er mag sich erinnert haben, dass er doch eben noch jene großartigen Worte seinem Briefschreiber hatte diktieren können: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, ein neues ist geworden ...“.
Dass Paulus durch manche Bedrängnis gegangen ist, dass man ihn immer wieder verhört, eingesperrt und mit dem Tode bedroht hatte - in den Gemeinden wussten das alle. Warum sollte es dem Jünger anders gehen als dem HERRN? Wichtig war allein: dass alle diese Erfahrungen Paulus nicht hatten bezwingen und die Hoffnung rauben können, aus der er lebte und die er allen kundtat: Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils. Nichts wird diese Gnade aufheben oder außer Kraft setzen: weder die dunklen Gedanken, noch die Selbstzweifel, noch der Groll darüber, dass diese Korinther so verletzend und widerborstig waren!
So ist dieser Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief ein Lehrstück für das, was jede Gemeinde, aber auch jeder/jede von uns dringend braucht: nämlich Achtsamkeit und Sensibilität im Umgang miteinander.
Denn die Botschaft von Gottes Gnade, von der Versöhnung in Christus ist kein abstraktes Programm. Sie ist immer konkret! Sie gewinnt Gestalt in dem, wie wir miteinander umgehen. Und weil das nicht unser Werk ist, sondern Gottes Werk an uns, entfaltet Gottes Versöhnung ihre Kraft, wo wir uns hinter langen Aufzählungen, Vorhaltungen und Aufrechnungen zu verschanzen beginnen, missverstanden, überfordert, am Ende unserer Kräfte ... Auszusprechen, was uns bedrängt, ist Anfang, damit wir uns aus der Verbitterung lösen und zurückfinden können in die Gemeinschaft, die wir berauchen und die uns braucht.
Manchmal kann es auch hilfreich sein, „nur“ aufzuschreiben, was in einem rumort. Auch das hat eine befreiende Wirkung. Wer weiß, ob Paulus diese Zeilen überhaupt an die Korinther abgeschickt hat? Vielleicht waren es Worte, die er in seiner Verbitterung und Wut diktiert und dann doch für sich behalten hat? Wer immer die Entscheidung getroffen hat, uns dieses Zeilen zu überliefern, tat gut daran, denn sie sind wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen und zugleich eine Wegweisung, die uns heraushilft, wenn es uns einmal so ergeht wie Paulus.